„Die Menschen im Donbass leben seit acht Jahren mit dem Beschuss“
Iwana Steinigk engagiert sich für den Verein Aktion Zukunft Donbass aus Thüringen. Auch derzeit versucht sie, Lkws mit Hilfslieferungen in die Ostukraine zu bringen. Im Interview mit hintergrund.de hat sie am Montag (7.3.22) über ihre bisherigen Aktionen gesprochen und darüber, wie sie die Situation vor Ort wahrnimmt. Die Fragen stellte Helge Buttkereit.
Frage: Was macht das Aktionsbündnis Zukunft Donbass?
Iwana Steinigk: Wir haben uns 2016 gegründet und sind ein loser Zusammenschluss von Menschen in Thüringen, die sich humanitär engagieren wollten für die Opfer des Konflikts in der Ostukraine. Hintergrund war die Situation nach dem Maidan, die Erklärung der Selbstständigkeit der LNR („Volksrepublik Lugansk“) und DNR („Volksrepublik Donezk“). Nach der Ausrufung der sogenannten antiterroristischen Operationen durch den Interimspräsidenten Oleksandr Turtschynow haben 2014 dort die Kämpfe begonnen. Zunächst wurde aus der Luft bombardiert. Dann sind ukrainische Bodentruppen in die Region vorgerückt. Es gab sehr harte militärische Auseinandersetzungen mit den sogenannten Volksmilizangehörigen. Dabei wurden sehr, sehr viele zivile Häuser wie Kindergärten, Schulen, Wohnhäuser und natürlich auch Krankenhäuser in Mitleidenschaft gezogen. Wir haben überlegt, was wir in der Situation machen können? Wir wollten den Menschen helfen, die in diesem Konflikt betroffen waren. Bis heute sammeln wir Medizinspenden für die Krankenhäuser in der Gegend und haben im Dezember 2021 unseren 30. LKW dorthin geschickt.
Was genau bringen Sie in die Ostukraine?
Wir sammeln medizinische Möbel und Geräte wie Ultraschall- und Sonographiegeräte, Defibrillatoren. Zudem medizinisches Verbrauchsmaterial wie Kanülen, Spritzen, Verbandsmaterial, Bandagen. Dazu kommen immer auch einige Sachspenden, die bei uns für soziale Einrichtungen abgegeben werden. Wenn wir dann genug Spenden für einen Sattelschlepper zusammen haben sowie das Geld für den Transport, wird er beladen und fährt los.
Sie fahren ja in eine Kriegsregion. Ist das nicht gefährlich?
Die kriegerischen Auseinandersetzungen waren 2014/2015. Dann kam das erste Minsker Abkommen und danach begann der Waffenstillstand. Der wurde mal mehr, mal weniger eingehalten. Unsere Lieferung in der Zeit zwischen 2016 bis Weihnachten 2021 sind nicht von aktiven Kampfhandlungen betroffen gewesen. Bis auf das Jahr 2021 war es verhältnismäßig ruhig, denn die Eskalation, die wir jetzt beobachten, hat eigentlich schon viel früher angefangen.
Wie sieht es aktuell aus? Wann planen Sie die nächste Lieferung mit Hilfsmaterial?
Wir könnten sofort zwei Lkws losschicken, weil wir genügend Spenden haben. Wir kämen aber jetzt in ein aktives Kriegsgebiet. Im Prinzip sind humanitäre Lieferungen von Sanktionen ausgenommen und man müsste die LKWs durchlassen. Wir prüfen gerade und informieren uns auf allen Seiten, inwieweit es möglich ist, überhaupt in die Ostukraine zu kommen.
Aber wir können uns nicht jetzt hinsetzen und sagen, okay, wir warten jetzt erst mal ab. Wie lang würde das dauern? Wir bekommen jetzt gemeldet, wie akut der Bedarf ist. Also werden wir versuchen, die Lieferung so schnell wie möglich dort hin zu schicken. Wir haben bisher mit einer Spedition aus Weißrussland zusammengearbeitet und die haben von uns den Auftrag bekommen diese Spendenlieferung abzuholen – gegen Bezahlung natürlich. Deutsche Speditionen sind seit 2015 oder 2014 nicht in die Region Ostukraine gefahren.
Wie genau kommen Ihre Lieferungen an? Welche Routen nutzen Sie?
Wir sind bisher über Weißrussland und Russland gefahren. Wir haben in erster Linie die Spenden in die LNR gebracht. Das war verhältnismäßig problemlos. Durch die Ukraine hätte man nicht mit Spenden für die selbsternannten Republiken fahren können, weil diese Spenden an der Frontlinie vermutlich konfisziert oder zumindest aufgehalten worden wären.
Warum haben Sie sich den Donbass als Ziel ihrer Hilfslieferungen ausgewählt?
Das hat damit zu tun, dass die internationalen Spenden für diese Konfliktregionen minimal waren. Man kann sich UNO-Berichte anschauen, der letzte ist von 2019. Dort ist die Verteilung der internationalen Spenden aufgelistet. Und da gibt es ein Verhältnis von mindestens 70 zu 30 Prozent. Mindestens 70 Prozent sind auf dem ukrainisch kontrollierten Territorium angekommen und nur maximal 30 Prozent in den Republiken.
Spiegelt das nicht das Verhältnis der Größe der Republiken zum Rest der Ukraine wieder?
Um das einzuordnen, muss man sich den Konflikt und die Folgen genauer anschauen. Also die Zeit zwischen 2014/15 und 2022. In diesem Zeitraum gab es eine sehr große Unverhältnismäßigkeit, denn die Schäden aus Kampfhandlungen waren in den Republiken viel größer. Also 70 bis 80 Prozent zu Ungunsten der Regionen Lugansk und Donezk im Verhältnis zum Rest des Landes. Der Konflikt betraf nicht die gesamte Ukraine, sondern die administrativen Regionen Lugansk und Donezk – die Republiken sind nach 2015 auf etwa ein Drittel der Größe der Regionen zurückgedrängt worden. Die Brüche des Waffenstillstandes finden entlang der Demarkationslinie statt, das bedeutet in einem Korridor von 20 bis 30 Kilometer Breite und etwa 420 Kilometer Länge. Die Zahl der Opfer muss man sich entlang dieser Konfliktzone anschauen. In Bezug auf diese Fläche sind die Zahlen erschreckend.
Wir erleben gerade in Deutschland eine riesengroße Hilfsbereitschaft. Überall werden Spenden gesammelt, es gibt Leute die losfahren und helfen wollen. Wie bewerten Sie das aus ihrer Erfahrung der vergangenen Jahre?
Es ist es großartig, dass die Leute nach Polen fahren oder in andere Regionen und dort ukrainischen Flüchtlingen unter die Arme greifen möchten. Das ist richtig und wichtig. Natürlich muss man diese Leute irgendwie versorgen. Die Menschen, die jetzt in diesen Grenzregionen gestrandet sind und auch nicht unbedingt nach Deutschland oder in andere EU-Länder wollen, die brauchen die Hilfe. Sie warten vielleicht dort ab, was in ihrem Land passiert.
Andererseits hat die Mehrheit der Menschen, die jetzt auf der Flucht ist, acht Jahre lang sehr ruhig gelebt im Verhältnis zu denen im Donbass. Die mussten acht Jahre lang lernen mit Beschuss, mit Toten und Verletzten und mit dieser ständigen Angst zu leben. Das war den Menschen hierzulande nicht bewusst.
Was hören Sie von den Menschen im Donbass? Wie geht es ihnen jetzt nach der Anerkennung der Volksrepubliken durch Russland und den begonnenen Krieg?
Wir haben Krankenhäuser beliefert, die sehr nah an der Frontlinie liegen. Und so hören wir auch jetzt, dass diese Regionen sehr stark betroffen sind. Unmittelbar im Nordwesten der beiden jetzt von Russland anerkannten Republiken gibt es einen großen Verbund ukrainischen Militärs. Der wurde weitestgehend eingekesselt von Volksmilizkräften und russischem Militär, das von Norden und von Süden vorgerückt ist. Dort bewegt sich derzeit nichts. Die stecken dort fest und im Moment wird sehr hart gekämpft. Von unseren Kontakten aus Perwomajsk zum Beispiel, einem Ort der sieben Kilometer vor der Demarkationslinie gelegen ist, höre ich, dass sie seit Anfang März beschossen werden mit Raketen die 122 bis 152 Millimetern Durchmesser haben. Diese Raketen hinterlassen ziemlich große Löcher in den Häusern. Solche Kaliber haben eigentlich laut Minsk II dort nichts mehr verloren. Auch weitere Orte, zu denen wir Kontakte haben, werden massiv beschossen. Die Schäden, die dort im Moment entstehen, sind sehr groß. Die Leute haben nach wie vor Angst.
Wie sind Sie persönlich zu der Hilfsaktion für den Donbass gekommen?
Meine Mutter ist Ukrainerin und wir haben Verwandtschaft in der Gegend um Kiew. Ich habe dort eine Zeitlang gearbeitet. Ich spreche Russisch und Ukrainisch. Ich sehe und lese, was seit 2014 über den Maidan und die Folgen berichtet wurde. Ich war schockiert über das Auseinanderdriften der Narrative hier in Deutschland und dem, was ich auf der russischsprachigen der ukrainischsprachigen Seite gesehen und gehört habe. Wenn man außerdem mit den Leuten sprechen kann, die dort leben, bekommt man ein völlig anderes Bild von dem, was da vor sich ging und bis jetzt passiert.
Was erwarten Sie für die nähere Zukunft der Region?
Ich hoffe, dass nicht die gesamte Ukraine das Schicksal erleiden muss, dass die Menschen im Donbass seit acht Jahren ertragen müssen. Ich hoffe inständig, dass die Kampfhandlungen auf beiden Seiten eingestellt werden und die Zahl der zivilen Opfer gering bleibt.
Die meisten Ukrainer sind an der Situation, unter der sie jetzt leiden, genauso unschuldig wie die Menschen im Donbass.
Natürlich. Am westeuropäischen oder auch deutschen Narrativ hat mich immer entrüstet, dass der Begriff Separatist und Terrorist so pauschal verwendet wird. Wenn man weiß, dass in den beiden Republiken 3,7 Millionen Menschen leben und von diesen etwa 3,7 Millionen der größte Teil Frauen, Kinder, alte Menschen sind, frage ich mich: Von welchen Terroristen und Separatisten redet man da? Genau dasselbe gilt für den Rest der Ukraine. Das sind in der Mehrzahl Zivilisten. Sie machen sich unter Umständen keine Gedanken über Politik.
Wie erleben Sie und wie erlebt ihr Verein jetzt die Situation?
Es sind jetzt sehr viel mehr Leute auf uns aufmerksam geworden. Sie schauen auf die Webseite und sehen, dass wir 30 Lkws seit 2016 losgeschickt haben. Sie denken sich wahrscheinlich: Die müssten eigentlich wissen, was sie machen und bieten uns dann Hilfe an. Wir haben die Arbeit, die wir bisher für den Donbass geleistet haben, immer sehr transparent nach außen getragen.
Ich bin selbst regelmäßig dort hingefahren. Ich will wissen, wo die Krankenhausspenden hinkommen und ob sie dort ankommen, wo wir sie haben wollen. Ich habe also mit den Menschen auch vor Ort Kontakt.
Wann waren Sie das letzte Mal in der Region?
Im Juni 2021.
Hatte sich die Situation damals schon zugespitzt?
Vermutlich können sich die wenigsten daran erinnern, dass im Februar 2021 die Russische Föderation Manöver in der Region durchgeführt hatte. Hier im Westen hat die Presse damals schon von Sebelrasseln und Angriffsplänen gesprochen. Dazu kam, dass im Januar 2021 in der Ukraine mehrere äußerst fragwürdige Gesetze verabschiedet wurden. Unter anderem das Internierungsgesetz und die Sprachenregelung für den öffentlichen Sektor [das Sprachengesetz soll das Russische zurückdrängen und ist Anfang des Jahres in Kraft getreten, das Internierungsgesetz soll die Umsiedlung von russischsprachigen Menschen regeln, nachdem die Republiken zur Ukraine zurückgekehrt wären]. Beide haben das Problem in der Ostukraine, generell der russischsprachigen Ukrainer befeuert. Zudem sehen wir in den Berichten der OSZE für Januar, Februar, März 2021 einen extremen Anstieg der Waffenstillstandsverletzungen. Im Juni, als ich dort war, blieb es dann verhältnismäßig ruhig. Im Frühjahr 2021 aber war das der Auftakt zu den Ereignissen, die wir dann seit September, Oktober 2021 verstärkt beobachten konnten.
Ich frage mich auch immer wieder, wie hätte Russland anders reagieren können nach acht Jahren fehlgeschlagenen, diplomatischen Verhandlungen über das Problem Donbass? Sie haben acht Jahre lang auf der Umsetzung von Minsk I und II bestanden. Acht Jahre lang hat sich Kiew aus der Verantwortung genommen. Zunächst haben sie sich im Stillen geweigert Minsk II umzusetzen. Seit Herbst 2021 haben sie konkret gesagt, sie werden Minsk II nicht umsetzen [1] Das hat Selenskyj gesagt, aber auch Danilow, dem Chef des Sicherheitsrates und andere Regierungsmitglieder.
Was haben die Russen denn zur Umsetzung von Minsk II getan? Haben sie das Abkommen denn eingehalten?
Die Russen sind nicht Teil des Abkommens, das wissen viele nicht oder verwechseln es. Die Russische Föderation ist, wie auch Deutschland und Frankreich Garant für die Umsetzung, nicht Konfliktpartei.
Im Minsker Abkommen gibt es die beteiligten Konfliktparteien – die Ukraine und die selbsternannten Republiken Lugansk und Donezk – diejenigen die sich einigen bzw die Punkte des Minsker Abkommens realisieren müssen. Und es gibt die sogenannten Garanten, die sozusagen hinter den Konfliktparteien stehen und eben garantieren sollen das die Konfliktparteien das Abkommen erfüllen. Da kann man natürlich spekulieren, welche Ratschläge die Garanten den Konfliktparteien gaben. Fakt ist jedoch: Die Russische Föderation ist nicht zur Einhaltung des Abkommen da. Sie ist eben „nur“ Garant. Man müsste genau so fragen: was haben Frankreich und Deutschland getan oder nicht getan für die Umsetzung.
Im übrigen wurde das Minsker Abkommen, also Minsk II durch die UN-Resolution 2202 vom 17. Februar 2015 bekräftigt. Die Russische Föderation hat bis zum 21. Februar diese Jahres, dem Tag der Anerkennung der selbsternannten Republiken, gebetsmühlenartig wiederholt: Es gibt keine Alternative zu Minsk II. 2019 haben sie die Gespräche erneuert, das Normandieformat aufgefrischt. Selenskij wurde 2019 mit einem riesigen Vertrauensbonus durch die Ukrainer gewählt. Er erhielt 74 Prozent der Stimmen. Sein Wahlversprechen Nummer Eins war, den Krieg im Donbass zu beenden – koste es was es wolle. Umgesetzt hat er dieses Versprechen jedoch nicht.
Wenn aber Krieg keine Lösung ist, wie könnte aus Sicht der Menschen im Donbass und darüber hinaus in der ganzen Ukraine aus Ihrer Sicht ein Verhandlungsergebnis aussehen?
Das ist in meinen Augen sehr schwierig zu sagen. Wir erleben gerade eine Zäsur. Ich persönlich glaube, dass es kein „Zurück“ an den Verhandlungstisch bezüglich des Status der Republiken und der Sicherheitsbedürfnisse der RF geben wird. Entsprechend den Ergebnissen dieses militärischen Eingreifens der Russischen Föderation oder auch der Reaktionen aus westeuropäischen Ländern und der USA werden wir sehen was dann verhandelt werden wird.
Alle Möglichkeiten, diesen seit 2014 bestehenden Konflikt, der eigentlich schon früher begonnen hat, friedlich beizulegen sind meines Erachtens verspielt worden.
Ganz konkret die ukrainische Bevölkerung, die einfachen Leute – sowohl die im Donbass, als auch die in anderen Teilen des Landes – hegen keinen Groll oder keine Feindschaft gegeneinander. Die ukrainische Bevölkerung ist an dieser Stelle Spielball regionaler nationalistischer Kräfte und geopolitischer Interessen.
Das ist immer das Dilemma der einfachen Menschen, der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung: Sie werden benutzt im Poker um politische Interessen.
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Das sind zwei Beispielquellen aus der ukrainischen Presse in der Leonid Resnikov (Verteidigungsminister) und Leonid Kravtschuk (Kopf der ukr. Verhandlungsdelagation in Minsk) davon sprechen, dass Minsk nicht umgesetzt werden „kann“. Diese Aussagen begannen bereits 2020 hier und da durchzusickern.